Zu den Liedern Ludwig van Beethovens
Beethovens Lieder
Die Bedeutung Beethovens als Schöpfer der neun Symphonien, des Fidelio und der Missa solemnis, der 32 Klaviersonaten und einer Vielzahl genialer Kammermusikwerke für verschiedene Besetzungen ist so übergroß, dass sein Liedschaffen daneben lange Zeit kaum wahrgenommen wurde. Und während für Schubert, Schumann, Brahms und Wolf die Komposition von Liedern und Gesängen ein zentraler Bereich ihres Schaffens war, hat sich Beethoven zwar immer wieder, aber doch nicht mit gleicher Intensität wie seine Nachfolger, der Liedkomposition zugewandt. Zur Vernachlässigung seiner Lieder im Konzertleben hat beigetragen, das der Meister wegen einiger extrem schwieriger Solo- und Chorpartien in der Missa solemnis und der neunten Symphonie seit jeher im Rufe stand, unsanglich zu schreiben, und kaum ein Biograph verzichtet auf die Mitteilung einer Überlieferung, nach der kein Geringerer als der berühmte Cherubini, unzufrieden mit der ersten Fassung des Fidelio, dem Komponisten zum eifrigen Studium ein französisches Lehrbuch der Vokalkomposition habe zukommen lassen. Die Vorurteile gegenüber Beethovens Umgang mit der menschlichen Stimme haben lange Zeit dazu geführt, dass außer einigen populären Konzertstücken, zu denen An die ferne Geliebte, Adelaide, Andenken, Der Kuß und das Flohlied nach dem bekannten Text aus Goethes Faust zählen, nur wenige seiner Lieder auf den Konzertpodien heimisch geworden sind.
So richtig es ist, dass die Hauptbedeutung Beethovens in seinem Instrumentalschaffen liegt, so ungerecht ist andererseits eine Geringschätzung seiner Vokalwerke. Wer die Lieder und Gesänge im Zusammenhang hört, wird feststellen, dass dieses reiche Bukett aus bedeutenden Werken und Gelegenheitskompositionen, aus Liebes – und Scherzliedern wie aus ernsten Stücken religiösen oder philosophischen Inhalts dem Musikfreund ein außerordentliches Vergnügen zu bereiten vermag. Beethovens Liederkosmos bietet eine Fülle musikalischer Schönheiten dar, und er vermittelt durch die zugrunde liegenden Texte dem heutigen Hörer vielfältige Einblicke in die Gedanken-, Vorstellungs- und Gefühlswelt des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts. So entsteht vor dem inneren Auge ein Zeitpanorama, in dem die Ideenwelt der Klassik und beginnenden Romantik mit ihrer spezifischen Verbindung von Naturgefühl, aufklärerischem Denken und religiösem Empfinden auf eine sehr nachdrückliche Weise lebendig wird.
Die Dichter
Beethovens literarischer Geschmack zeichnete sich durch eine Neigung zur großen Epik und Dramatik aus, seine besondere Liebe galt Homer und Shakespeare. Wir wissen, dass er gerne im Plutarch und in den Schriften Platons las. Unter den Zeitgenossen standen ihm Goethe und Schiller am höchsten. Während er letzterem im Finale der neunten Symphonie ein bleibendes Denkmal gesetzt hat, erscheint unter den Dichtern seiner Lieder niemand häufiger als Goethe. Einige von dessen Schöpfungen hat Beethoven gleich mehrfach vertont; so existieren vom berühmten Lied der Mignon Nur wer die Sehnsucht kennt nicht weniger als vier vollkommen unterschiedliche Fassungen. Manche Autoren haben darin ein Ringen um die angemessene Form gesehen, die dem Komponisten nicht sofort zugefallen sei. Dem widerspricht jedoch, dass Beethoven alle Fassungen zugleich veröffentlicht hat. Offenbar war die Faszination dieses Textes für ihn so groß, dass er glaubte, ihn von verschiedenen Seiten beleuchten zu müssen.
Unter allen von Beethoven vertonten Gedichten haben diejenigen Goethes das mit Abstand höchste literarische Niveau. Andere uns heute noch geläufige Dichter, denen sich Beethoven zugewandt hat, sind Gottfried August Bürger (1748-1794), Matthias Claudius (1740-1815), Johann Wilhelm Ludwig Gleim (1719-1803), Johann Gottfried Herder (1744-1803), Ludwig Hölty (1748-1776) und Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781); auch Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) ist unter ihnen zu finden. Sie alle sind aber nur mit wenigen Texten vertreten.
Eine besondere Erwähnung verdient Christian Fürchtegott Gellert (1715-1769), der um die Mitte des 18. Jahrhunderts zu den meistgelesenen Autoren in Deutschland zählte und dessen Gedichte auch von C. P. E. Bach und Haydn musikalisch bearbeitet wurden. Beethovens Vertonung von sechs Texten aus den Geistlichen Oden und Liedern Gellerts gehört zu seinen bekanntesten Liedkompositionen und wird vergleichsweise häufig aufgeführt.
Pietro Metastasio (1698-1782), der große Librettist, dessen Stücke zahlreichen bedeutenden Tonsetzern seiner Zeit als Vorlage dienten, ist ebenfalls mit sechs Titeln – alle in italienischer Sprache – im Verzeichnis der Beethovenlieder vertreten. Der Name des von seinen Zeitgenossen geschätzten, dann aber in Vergessenheit geratenen Friedrich von Matthisson (1761-1831) lebt wohl nur noch durch zwei besonders beliebte Beethoven-Vertonungen: Adelaide op. 46 und Andenken WoO 136. Friedrich Treitschke (1776-1842) ist dem Kenner von Beethovens Werken möglicherweise als Librettist des Fidelio (in der Fassung von 1814) geläufig; von ihm stammt das Lied Ruf vom Berge, bei dem es sich um eine Überarbeitung und Erweiterung des Volksliedes Wenn ich ein Vöglein wär handelt.
Der 1783 geborene Christian Ludwig Reissig, mit immerhin acht Texten einer der von Beethoven am häufigsten vertonten Dichter, dürfte wie die verbleibenden, hier nicht einzeln aufgeführten Autoren beethovenscher Lieder und Gesänge in der Regel selbst dem literarisch gebildeten Leser nicht mehr bekannt sein. Doch wie schon angedeutet evoziert die Beschäftigung mit den von Beethoven herangezogenen Texten ein farbiges Bild von der Lebenswelt und dem Gedankenreichtum einer ganzen Epoche. Das Internet erschließt dem Interessierten heutzutage zahlreiche Möglichkeiten, den Lebenswegen der Dichter genauer nachzugehen und sich eingehender mit ihnen zu beschäftigen.
Chronologischer Überblick
Beethoven hat sich schon in seinen Bonner Jahren mit dem Lied auseinander gesetzt; die früheste Äußerung in dieser Gattung ist wohl die Schilderung eines Mädchens, veröffentlicht im Jahre 1783. Ein späterer Nachdruck teilt mit, Beethoven habe das Stück „in seinem eilften Jahre componirt“1. Nicht immer sagt die Opuszahl etwas über die Entstehungszeit aus; so entstammen die als op. 52 relativ spät veröffentlichten Stücke allesamt den Jahren bis 1793. Danach hat Beethoven, abgesehen von gelegentlichen ein- oder zweijährigen Unterbrechungen, bis Anfang der 1820er Jahre einigermaßen regelmäßig Lieder komponiert. Die Gellert-Lieder entstanden um die Jahrhundertwende, die Goethe-Gesänge op. 83 stammen aus dem Jahre 1810, der Zyklus An die ferne Geliebte wurde sechs Jahre später komponiert und führt den Reifeprozess des Komponisten als Liedschöpfer an sein Ziel.
Formen und Klangsprache
Hinter der schlichten Bezeichnung „Lied“ verbirgt sich eine Vielzahl verschiedener musikalischer Formen. Ausgehend vom einfachen Strophenlied, das wegen der oft sehr zahlreichen Wiederholungen nicht immer leicht zu gestalten ist, über rezitativisch gehaltene Stücke, Arietten, Anlehnungen an die Kantatenform bis hin zum durchkomponierten Liederzyklus hat sich Beethoven einer großen Bandbreite formaler Gestaltungsmöglichkeiten bedient. Dieser Formenreichtum trägt nicht unwesentlich zur Faszinationskraft seines Liedschaffens bei. Die Stimmbehandlung ist gekennzeichnet durch die Verwendung exponierter Lagen, einen großen Tonumfang, häufige Forte-Piano-Wechsel und oftmals sehr lange Phrasenbildungen. Der Klaviersatz ist weniger variantenreich als der Schuberts, doch stets dem Textinhalt angemessen und in den besten Stücken von ausgeprägter Charakteristik.
Zu einzelnen Werken
Es entspricht nicht dem Rahmen eines Booklets, auf jedes Lied gesondert einzugehen. Viele Nummern bedürfen auch gar keiner Vermittlung – die Gelegenheitskompositionen beispielsweise wollen einfach als das genommen werden, was sie sind: gefällige, kleine Kunststücke, deren Sinn darin besteht, Mußestunden zu verschönern und das gesellige Beisammensein zu bereichern. Auf einige Werke sei wegen ihrer anerkannten Bedeutung oder ihrer unverdienten Vernachlässigung aber doch genauer hingewiesen.
Unstrittig ist An die ferne Geliebte op. 98 nicht nur die längste Liedkomposition Beethovens, sondern auch die bedeutendste und für die Interpreten die anspruchsvollste. Im April 1816 entstanden, gilt sie als krönender Höhepunkt von Beethovens Liedschaffen und genoss bereits im 19. Jahrhundert eine besondere Wertschätzung. In ihr beschreitet der Komponist Neuland auf dem Weg zur zyklischen Anlage von Liedern und gibt damit einen Impuls, der wenig später in den großen Zyklen Schuberts und Schumanns weitere Früchte tragen sollte. Der Text stammt von einem Medizinstudenten namens Alois Jeitteles (1794-1858); er umfasst sechs Gedichte, die ohne Pause aufeinander folgen, verbunden nur durch kurze instrumentale Überleitungen. Eine besondere Herausforderung besteht darin, die Charakteristik der einzelnen Teile zu unterstreichen, ohne den einheitlichen Zusammenhang des ganzen Werkes zu gefährden. Beethoven, der dafür bekannt war, stets den Gedanken an die technische Ausführbarkeit seinem individuellen Ausdruckswillen unterzuordnen, hat auch in diesem schönen Werk auf die Ausführenden wenig Rücksicht genommen. Die Komposition weist zwar keine ganz extremen Schwierigkeiten auf, aber die satztechnische Anlage ist sowohl im Gesangspart als auch in der Klavierbegleitung alles andere als bequem ausführbar, die Schreibweise gelegentlich etwas sperrig. Wer diese Probleme meistert, wird reichlich belohnt mit musikalisch gestalteten Naturbildern, in denen die Gefühle des Liebenden ihren metaphorischen Ausdruck finden.
Ein bemerkenswertes Beispiel lebhaften Naturempfindens ist auch das Lied Der Wachtelschlag des heute nicht mehr bekannten Dichters Samuel Friedrich Sauter (1766-1846). Während Beethoven in seiner 6. Symphonie, der „Pastorale“, Wert darauf legt, die Komposition sei „mehr Ausdruck der Empfindung als Malerei“, arbeitet „Der Wachtelschlag“ mit einer Fülle tonmalerischer Effekte, die den Wortsinn ganz unvermittelt in Klang übertragen. Die Bildhaftigkeit des Textes hat übrigens auch Franz Schubert zu einer Vertonung inspiriert.
Bei Adelaide op. 46 handelt es sich um das vielleicht berühmteste einzeln stehende Liedwerk Beethovens. Zu seinem Erfolg trägt neben der zarten Lyrik des Anfangs und der einprägsamen, jede Strophe abschließenden Wiederholung des Namens sicher auch die opernhafte Anlage bei: der rasche Schlussabschnitt entspricht der Cabaletta einer italienischen Arie.
Ein ungewöhnlicher Fall ist die zweimalige Komposition des Textes An die Hoffnung von Chr. A. Tiedge. In der ersten, als op. 32 veröffentlichten Version gestaltet Beethoven das Werk als Strophenlied. Erheblich verändert ist die als op. 94 herausgekommene Neubearbeitung. Der Text ist um eine einleitende Strophe erweitert, die den folgenden Versen einen religiösen Rahmen gibt und die Aussage des Gedichtes vom individuellen Erleben ins Allgemeine überführt. Die musikalische Gestalt ist in der späteren Fassung ungleich reicher und komplizierter, die rhythmische Struktur wesentlich komplexer. Beide Vertonungen enthalten Momente von großer Schönheit; die durchkomponierte spätere Fassung ist aber sicher die bedeutendere.
Zu seinen populärsten Liedern zählen Beethovens Goethe-Vertonungen. Die Poesie des Mailiedes hat Generationen von Sängern erfreut, das Flohlied Aus Goethes Faust op. 75, Nr. 3 ist eine charakteristisch-effektvolle Konzertpiece und ein beliebtes Zugabenstück. Die aus drei Liedern bestehende Sammlung op. 83 enthält mit Wonne der Wehmut eine der Perlen aus Beethovens Liedschaffen. Mit großer Ruhe vorzutragen, trotz der Auszierungen im Klavier und der den Tränenfluss symbolisierenden absteigenden Skalen in der Begleitung schlicht angelegt, ist dieses Werk in seiner Verbindung von Innigkeit und Ausdruckstiefe von starker Wirkung. Neue Liebe, neues Leben, in zwei Fassungen vorliegend, begeistert mit seinem stürmischen Agitato-Beginn „Herz, mein Herz, was soll das geben? Was bedränget dich so sehr?“, den Beethoven mit dahinstürmenden Achteln unterlegt, und seinem bis zum Höhepunkt kurz vor Schluss durchgehaltenen Schwung.
Eine Kuriosität ist die Entstehungsgeschichte der Arietta In questa tomba oscura. Die Gräfin Rzewuska improvisierte in einer Gesellschaft eine Melodie, zu der Giuseppe Carpani sogleich einen Text erfand. Dieser wurde später zahlreichen Komponisten zur Vertonung übergeben. 63 Kompositionen kamen auf diese Weise zustande. Beethovens Beitrag war als letzter eingegangen und erschien daher an letzter Stelle, direkt vor den Beilagen, was den Meister nachhaltig verärgerte. Als er später von Anton Diabelli aufgefordert wurde, sich an einem ähnlichen Projekt zu beteiligen, wies er, durch Erfahrung klug geworden, das Ansinnen entschieden zurück. Statt dessen verwendete er den kleinen Walzer Diabellis für ein eigenes großes Werk, seine gewaltigen Klavier-Variationen op. 120.
Eine leider viel zu wenig aufgeführte Kostbarkeit ist die Resignation WoO 149. In ihr gelingt es Beethoven, mit sparsamsten Mitteln größte Eindringlichkeit zu erreichen. Der Text wird mit deklamatorischer Deutlichkeit vorgetragen, jede Pause spricht bedeutungsvoll, das Verlöschen des Lichtes könnte nicht suggestiver gestaltet sein als auf dem Höhepunkt des Stückes am Ende des Mittelteils. Beethoven hat sich mit dem Text längere Zeit beschäftigt; welche Sorgfalt er der Komposition hat angedeihen lassen, zeigt sich auch in der für ein so kurzes Stück ungewöhnlich differenzierten Vortragsbezeichnung; sie lautet: „Mit Empfindung, jedoch entschlossen, wohl akzentuiert und sprechend vorgetragen“.
Zu dieser Ausgabe
Mit Dietrich Fischer-Dieskau, Hermann Prey und Peter Schreier haben einige der bedeutendsten Liedsänger bereits früher größere Teile des beethovenschen Liedschaffens eingespielt und sich für die Rehabilitierung dieser Werkgruppe eingesetzt. Die vorliegende CD-Edition präsentiert die Lieder und Gesänge des Komponisten jetzt in bisher nicht gegebener Vollständigkeit. Sie orientiert sich an dem von Helga Lühning im Rahmen der Gesamtausgabe von Beethovens Werken im Henle-Verlag vorgelegten Band „Lieder und Gesänge mit Klavierbegleitung“ und enthält mit Ausnahme der Cantata campestre WoO 103 sowie der Entwürfe und Fragmente sämtliche darin enthaltenen Kompositionen in allen Fassungen und mit sämtlichen Strophen einschließlich der von Beethoven selbst hergestellten Klavierauszüge zu Klärchens Freudvoll und leidvoll aus der Schauspielmusik zu Goethes Trauerspiel Egmont op. 84, des Bundesliedes op. 122 (im Original für Soli, Chor und Bläser) und des Opferliedes op. 121b (ursprünglich für Sopran, Chor und Orchester). Dies ermöglicht dem interessierten Hörer, durch den Vergleich von Mehrfachvertonungen derselben Texte aufschlussreiche Einblicke in Beethovens musikalische Entwicklung und in seinen Schaffensprozess zu gewinnen. Nicht enthalten sind in der vorliegenden Veröffentlichung dagegen Beethovens Volksliedbearbeitungen. – Auch in der Reihenfolge folgt diese Einspielung der Gesamtausgabe und präsentiert zunächst die zu Lebzeiten Beethovens veröffentlichten Kompositionen, daran anschließend die Werke aus dem Nachlass und schließlich die authentischen Klavierauszüge.
Jochen Köhler
unterrichtet als Professor für Klavier und Methodik am Institut für Musik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und konzertiert als Solist, Liedbegleiter und Kammermusiker.